Spielarten der Gastlichkeit

 

Vielleicht ist es das, was ich machen mag, wenn ich alt bin. Ein Hostel aufmachen, in München. Denn ich kenne die Hostels dieser Welt, von Tibet bis Albanien, von steril bis heruntergekommen, von modern und intelligent bis urig. In Shkoder hatte ich das Gefühl bei Alma im Wohnzimmer zu kochen, in Bozen steht ein einsamer Ofen neben der Waschmaschine. Ich weiss, wie schön es sein kann und was es braucht. Heimelig, großzügig, gewachsen, bescheiden, Musik und eine nette Bar, anständige Betten und ein bisschen Privatsphäre, auch im Dorm. Hier in Genua werden allerdings alle Standards übertroffen: Die schöne und große Küche ist Teil eines weitläufigen und gemütlichen Essensaals an den sich eine gemütliche Terasse anschließt; so groß ist die, dass man bequem ein kleines Konzert veranstalten könnte. Abends klimperte ein Musiker auf seinem kleinen E-Piano entspannte Tunes in die Nacht, so bin ich eingeschlafen, mein Fenster geht auf die Terrasse. Über Nacht haben die Heinzelmännchen die Kochflächen gereinigt und die großen Gläser wieder mit Biscotti befüllt, Obst, Gurken, Tomaten gewaschen in Körben zur freien Verfügung, - nebst Pasta und Riso, Kartoffeln und Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten-Sugo-Flaschen. Mais und Erbsen in Dosen. In keinem anderen Ostello wird weltweit soviel Tomatensauce gekocht, soviel Spaghetti. Ein paar Ostellinitos fühlen sich abends bei Wein und Seligkeit zu Höherem berufen – natürlich sind Auflaufformen nebst einer gepflegten Röhre vorhanden um gemeinschaftlich Parmigianas und diverse Alfornos zu produzieren. Dann wird diniert – irgendwo haben sie sogar ein weißes Tischtuch hergezaubert. Wein aus langstieligen Gläsern. Kein Witz. So geht’s also auch.

 

Aber es geht auch anders: Zum Beispiel Ostello Pavia. Um zum Ostello gelangen fahre ich an der Stadt vorbei, die Stadt ist schön, zumindest der Bereich der als Centro Storico ausgewiesen wird. Bestimmt ist es da schön – so wie italienische Städte schön sind – Tische auf der Piazza, Osterias in historischen Mauern, Türmchen, Kirchen, bröckelnder Putz und malerischer Verfall, dazwischen strömen die Menschen zusammen und belagern die Treppenstufen der Kirchen und machen sich gemeinsam über die Pizza her, die sie aus einer der vielen Restaurants geholt haben, die anderen sitzen am Tisch und trinken Aperol Spritz zu sagenhaften 3 Euro das Glas. An all dem also fahre ich vorbei, überquere einen Autobahnzubringer und gelange in eine gesichtslose Wohnsiedlung, die schon auch zum italienischen Stadtbild gehört – halt nicht Innenstadtbild, sondern hässliche Peripherie – nach 3km taucht das Ostello Pavia auf. Umzäunt, verschlossen, unbeleuchtet, unbewohnt. Auf mein Klingeln reagiert keiner, selbst das Tor auf den gepflasterten Vorgerten bleibt verschlossen. Immerhin lässt sich die Telefonnummer anrufen, und mir wird erklärt, dass ich mich hätte online einchecken müssen – das hätte ich nicht getan. Richtig allerdings ist: Genau das habe ich sehr wohl getan, selbst eine Bestätigung kann ich vorweisen – das wiederum interessiert die Belegschaft nicht, denn in ihren Unterlagen können sie meinen Check In nicht finden – stattdessen sagen sie mir wo ich hinfahren kann um den Concierge der Herberge zu besuchen – da könnte ich auch den Covid-Nachweis abnehmen lassen, ohne den hier nichts geht. Ist ja auch gut so – nur dass unsere Cov-App aus Sicherheitsgründen keine Screenshots zulässt.  Also radle ich über mehrere Autobahn-Tangenten zur nächsten Herberge – der Concierge dirigiert nämlich 3 parallele Operationen, dass er sich dazu nicht in das erbärmliche Ostello verfügt, verstehe ich schon. Dort also zeige ich meinen Covid Pass, radle zurück und werde über Whatsapp erst über fernsteuerbare Schlösser auf das Grundstück und dann in den Bau eingelassen. Es ist dunkel, auf einem verlassenen Tresen liegt eine einzelne Chipkarte – das ist tatsächlich meine. Damit gehe ich in das mir zugewiesene Zimmer. 4 Stock-Betten, eine Nasszelle, … endlich duschen. Im Zimmer riecht es nach Knoblauch und Füßen, ein Bett ist belegt, unter dem Bett Essens-, äh… „Vorräte“??? -  in Plastiktüten, auf der oberen Etage des Betts lagern Teller mit undefinierten Speiseresten. Im Klo siehts aus, dass Du denkst Oktoberfest. Egal – Wasser, warm, draußen ist die Sonne weg und inzwischen wieder wirklich kalt.  Zumindest das Wasser ist heiß, kurzer Moment von Entspannung.

 

Dann fahre ich noch schnell nach Pavia – mit dem Rad geht das, und natürlich ist es genau so, wie man das so kennt. Unspektakulär und Pavia ist nicht Florenz, aber eben auch nicht Mannheim, Stollberg oder Bochum. Es gibt Kirchen, bröckelnden Putz und marmorne Stufen, auf denen sich die Jugend herumtreibt, es riecht nach Pizza, die Jungen trinken Spritz, die Alten Wein, in den Läden, die immer noch geöffnet sind, werden die Lichter angezündet und es leuchten die Auslagen mit Käse und den obligatorischen Würsten und Schinken: Po-Ebene ist Rinderzucht und Schweinemast. Fleisch satt. Die Ober wieseln durch die Tischgassen und hauen Pasta und Risotti raus, … ich hab auch Hunger – und das merke ich jetzt. Seit heute Vormittags gabs nichts mehr zu essen. (Seit mir vor dem Aldi um halb 11 tatsächlich der Helm geklaut wurde, seit ich – weil ich es echt nicht glauben wollte den Weg nochmal komplette 20km hin und her abgefahren habe -… aber nix: kein Helm) – solange jedenfalls ist es her und seitdem gabs nix – kein Brioche oder Biscotti – 100km, Gegenwind. Und auch da eher nichts wirklich fürs Auge – sondern eben: Po-Ebene: Industrie und Schweinezucht! Da ziehen sich 100km. Schon in der Früh hatte ich Hunger! – Am Abend zuvor zu wenig gegessen, in der Früh das Essen auf später verschoben. Und ich esse jetzt endlich meine Vorräte auf, denke ich mir, eine halbe Packung Nudeln, eine halbe Packung geriebener Pecorino, ein halbes Glas Pesto. Also nichts wie ins Hostel und endlich kochen.

 

Im Untergeschoss soll sich die Küche befinden, ein Fernseher und angekündigte kunterbunte Zerstreuung, … Und da ist es tatsächlich geräumig, das ganze sieht aber eher aus wie ein verlassenes Sozialzentrum für Wohnungslose aus den 80er Jahren. In der Küche stapeln sich die angeranzten Teller, Geschirr und Besteck, die Schränke sind leer, alles was man zum Kochen nutzen könnte stapelt sich in der Spüle, ein wackliger Turm aus fettigen Tellern, Gläsern, Tassen, Schüsseln mit irgendwelchen milchigen Ablagerungen, Töpfe in denen das Spülwasser scheitert die eingebrannten Kochversuche eines Vogonen zu lösen. Wer macht sowas? Spült da jemand? Gab es je Personal, wer kocht hier?

 

Ich bin zu schwach um jetzt heldenhaft gegen diesem Pfuhl an Essensresten anzuspülen. Ich hab noch einen Camembert und eine halbe Breze, eine Dose Bier und einen Apfel. Dann halt das und schnell ins Bett.

 

Licht im Zimmer. Und Lärm. Im Bett sitzt der Koloss von Rhodos, aus einem Tupperware Eimer schlingt er Nudeln, es rülpst und gurgelt. Neben ihm tobt ein Smartphone und überträgt eine Sitcom, oder das Freitagsgebet der Wahabiten, oder die Versteigerung von Zuchtbullen - dann aber klingelt es. Irgendjemand ruft an, er nimmt das Handy auf und hustet anständig, oder war das die Begrüßung? Dann brüllt das Handy weiter, der Eimer Nudeln leert sich, - ich versuche es mit einer Vorstellung und der Bitte das Fenster öffnen zu dürfen. Begrüßung ist OK, Fenster öffnen eher nicht. Dann erhebt sich der Koloss, nachdem er seinen Leib aus der Bettdecke geschält hat, in prachtvollen Unterhosen steht er vor mir: Al-Said sein Name, Al Said aus Ägypten. Wie das Segel einer Feluke in der Abendflaute - diese Unterhose, mein Gott, was für ein unterirdisches Textil. So läuft man einfach nicht rum. Nirgends! Nicht mal im Ostello Pavia – und auch dann nicht, wenn man da quasi als einziger Gast dauerresidiert. Dann geht er aufs Klo, … ach ja: die Tür kann man natürlich nicht abschließen, das stört Al Said zwar weniger, mich aber schon. Ich bin froh, dass ich schon vorher duschen war.

 

Im Untergeschoss habe ich Ruhe, schlafen geht hier eh nicht, während Al Said die Welt in seinem Bettkoben zu Gast hat, auf seinem Handy ist Betrieb wie Börse in Tokyo. Und ich muss mich ja noch im Ostello Bello Genova anmelden – nochmal sowas wie in Pavia will ich vermeiden. (Warum kann ich nicht einfach auflaufen und sagen – Ich bins, Stefan und das hier meine Dokumenti, hier mein „Green Pass“, trallala zeige mir mein Schlafplätzchen?) Jedenfalls geht dann im unerträglichen Ostello Pavia das vermaledeite Wifi nicht, ich spastel mir das alles auf meinem Handy zusammen, Kreditkartennummer, Geburtsdatum, Wohnort, Reisedokumente ausgestellt wo? Wann?, … endlose Fragerei – und ich bin schon so matschig in der Birne und ich merke wie mir langsam die Puste ausgeht. Das war ein langer Tag und ich habe so einen verdammten Hunger und eine basale Grundgenervtheit: warum schickt mir das Schicksal einen ägyptischen Haudrauf und Preisschnarcher in das enge Schlafzimmer? Warum geht zur Abwechslung nichts mal von allein: Internet, anschalten, Passwort, verbunden – und gut isses. Stattdessen: kann nicht verbunden werden, im Keller kaum mobile Daten, oben der Koloss vom Nil, und ich hab einfach keine Energie mehr, zumindest diese blöde Anmeldung will ich aber noch fertig machen und wenn das geschafft ist dann gehe ich rauf und bitte Al Said um Ruhe, und später wenn er schläft mache ich das Fenster auf, …ich bin so müde, aber jetzt noch schnell die blöde Online Checkin Abfragerei, Creditkarte gültig bis wann? Nummer? Getippt – gecheckt – jetzt noch die 4 stellige Sicherheitsnummer – getippt, abgeschickt, … Nummer falsch! … sie haben noch 4 Versuche.

 

Was?

 

Halt mal: 4-stellige Sicherheitsnummer? Ich hab jetzt nicht im Ernst die Nummer? 

 

Doch! Hab ich! Allen Ernstes! Und dann schau ich nochmal die Seite an – und das ist auch nicht mehr die Page vom Hostel, … irgendwann hat sich da diese Seite geöffnet, parallel, und ich hab brav und ferngesteuert und gestresst um endlich fertig zu werden um endlich ins Bett zu kommen und bitte bitte bitte morgen in Genua keinen Stress …  

 

Und jetzt: Das ganze Theater – Karte sperren, in Deutschland hotlines suchen, die entweder besetzt sind oder mich wegklicken oder mir Wartezeiten von 10 Minuten und länger in Aussicht stellen – zwischenzeitlich ruft mein lieber Kollege Frank zurück, und der schüttelt wohl bei sich zu Hause auch den Kopf, wie blöd kann man denn auch sein? – aber der Frank ist höflich und spürt wohl, dass ich für einen feurigen Einlauf gerade nicht in Stimmung bin. Er sagt tatsächlich Tröstendes und bietet Hilfe an – aber jetzt muss erstmal die Karte aus dem Verkehr - … es sind nicht mehr als 15 Minuten vergangen. Ob das reicht, dass irgendwelche Internet-Schurken mein Konto plündern, weiss ich nicht. Der Mann an der Hotline ist sehr aufgeräumt, der arbeitet an der Front, den ganzen Tag spricht er mit den ganzen Kretins, die es trotz 10.000 facher Warnung und wider besseren Wissens schaffen irgendwelchen Trollen ihr intimstes Bankgeheimnis anzuvertrauen. Hunger hab ich jetzt nicht mehr – jetzt ist mir schlecht.

 

Al Said hat gute Laune – wo ich herkäme? Wunderbar – in München ist das Leben toll, überall Arbeit, er hat Frau und massig Kinder- gerne will er nach Deutschland kommen. Sein Gespräch weht daher wie Knoblauch-Sturm, aufgerichtet ist der Mann locker doppelt so groß wie ich, zu einer angemessenen Hose hat es bislang nicht gereicht, einsilbig schleppe ich mich ins Bett und bitte ihn in absehbarer Zeit das Licht zu löschen und das Telefon abzuschalten. Das nervt ihn gewaltig, aber nachdem er sich versichert hat, dass ich nur eine Nacht bleibe, ist er gnädig und lässt mich schlafen. Ich schlafe trotzdem nicht, und beim ersten Dämmern packe ich meine Taschen und verlasse Pavia, es ist saukalt, die Finger eisig – später erwische ich eine Mitarbeiterin der Spardabank, die mir ein bisschen die Sorgen nehmen kann, und langsam kehren die Lebensgeister zurück. Ich trink Cappuchini in den Cafes, in einem sizilianischen Gemüseladen kaufe ich Bananen, in Tortone steig ich in den Zug, weil ich ankommen will, in einem Bett, mit netten Dorm Mates, einer vernünftigen Küche, einem sauberen Bad. Und dann komme ich an und alles ist noch so viel besser. Während ich hier sitze und schreibe, klimpert auf der Veranda unverdrossen der Pianist, unten wummert Party Musik und die Jugend, die sich hier mehrheitlich untergebracht hat, groovt sich ein.

 

Nach ein paar Tagen in der Po-Ebene ist Großstadt absolut super. Genua bei Nacht - wowow

So geht Ostello: Ostello Bello Genova

 

Nur 2 Tage vorher war ich in Cremona gewesen und hatte einen unfassbar netten Gastgeber über das Warmshower Portal – Marianna, Enrico und ihr Sohn Giacomo – Enrico ist Imker und natürlich auch ein großer Radler, sie wohnen in einem Vorort von Cremona, er arbeitet in einer Kooperative wo sie Jugendliche auffangen und ihnen das Radl-Schrauben beibringen – Jugendliche mit Migrationshintergrund, Dropouts oder Drogenopfer. Es ist staubtrocken in der Po-Ebene. Der Po, das fällt auch mir auf, ist ein lächerliches Rinnsal, man sieht an den Ufern, wie hoch das Wasser normal steht, jetzt mäandert ein Rest des Flusses durch das Kiesbett, die Reiher waten durch die Pfützen. Ein paar österreichische Profiangler verladen genervt ihre ganzen Angelutensilien in einen Truck. Boot, Zelt, Außenborder, Angeln, Käscher, – das sieht aus wie eine Expedition, aber tatsächlich sind sie nur hier auf dem Po rumgedümpelt: Welse fangen, sagen sie, aber es macht keinen Spass, der Kahn läuft ständig auf Grund. Natürlich ist das der Klimawandel – aber in Cremona wird nicht viel über Verkehr nachgedacht, sagt Enrico: Ein Lastenbike gibt es in der Stadt – das ist seines. Die Stadt ist winzig, 75.000 Einwohner, aber sie sind die einzigen, die ihr Auto verkauft haben.

 

Und weil der Po so schlecht weggekommen ist, Wasserpegel-Tiefstand, Pavia-Nähe, Wels-Wasser, Schweinzucht-Ebene und Zona Industriale soll dem Fluss Gerechtigkeit widerfahren: Für endlose Kilometer kann man auf einer fast unbefahrenen Straße auf dem Wall entlangfahren, der die umliegenden Gehöfte und Äcker, Dörferchen und Landschaften vor Überschwemmungen schützt. Italien verschreibt sich was die Führung von Wasserläufen anbelangt einer konsequenten Kanalisierungs-Strategie. Vieles was an Flüssen auf italienischem Hoheitsgebiet aus dem Bodentritt und dem Mittelmeer entgegenfließt darf das in linealgeraden Betonbetten tun. Der Po, geschmähtester unter den Flüssen, darf sich durch die Ebene schlängeln, gesäumt von Weiden und Erlenbrüchen. Glücklicher Po!

 

Meine WS Gastgeber Familie hat sogar einen Mückenfangapparat der Regensburger BioGents! Enrico berichtet von einem typisch italienischen Projekt - Jahrhunderte der Planung, verspäteter Baubeginn, und dann nie fertig gestellt. Lustigerweise auch Verkehrsinfrastruktur. Hier ein Kanal von Cremona nach Mailand - 20km haben sie geschafft, die Planung geht zurück auf das 18. Jhd, Baubeginn war in den 1940er Jahren. Heute sagenhafte Radlrennbahn

 

Ich genieße die Tage in Genua, schnell lerne ich ein paar Reisende kennen. Franko kommt aus Argentinien und hat Geologie studiert. Als Geologe ist der naheliegende Job nach Öl und Gas zu bohren. Löcher in den Boden bohren findet er zwar super – Öl und Erdgas verbrennen allerdings nicht und so sucht er einen neuen Job. Aus irgendeinem Grund in Italien. Ich habe vergeblich versucht zu verstehen, er hat vergeblich versucht zu erklären – sein Englisch ist echt unterirdisch. Zusammen gehen wir stattdessen in das naturhistorische Museum, während sich der Himmel ins Meer schüttet, alles ist grau, in den Bergen hänge die Wolken als tiefe Fetzen zwischen den steilen Bergen, die direkt hinter Genua aufragen. Wie schlecht muss das Wetter sein, bis sich Menschen in dieses Tierarchiv verirren? Wie schlecht muss ein Museum sein, dass selbst jetzt nur ein Geologe aus Argentinien und ein Biologe durch die Ausstellung schlendern? Die Exponate sind so alt, … selbst ausgestopfte Tiere altern und die hier sehen aus wie Museumszombies, …. Dem ausgestopften Zebra sind die Haare ausgegangen, es sieht aus wie ein Zebra im Ledermantel, der Gepard hat einen Wurstkörper – dagegen ist unser Dackel Lola definiert wie Arnold Schwarzenegger, die Affen sehen aus wie Höllengeschöpfe von Hieronymus Bosch, es gibt grotesk viele Insekten, ein vergilbter handschriftlicher Zettel weist den in Alkohol eingelegten Oktopus als Fang aus dem Jahr 1860 aus. Wir trocknen und wärmen uns an den Heizkörpern und suchen erfolglos nach Hinweisen auf Museumspädagogik.

 

Ich warte auf eine Rückmeldung von der Bank – und überlege, ob ich mit dem Flixbus nach München fahren sollte. Ist jetzt eine neue Karte in Auftrag gegeben? Ist die alte gesperrt? Dann aber meldet sich meine italienische Freundin Libera und lädt mich nach Neapel ein. Und weil das Wetter zwischen Genua und Nizza weiterhin mies ist, es schneit und regnet, entscheide ich, das Rad im sagenhaften Ostello Genova zu parken und den Regen in Napoli abzuwettern.

 

3 Tage später bin ich zurück und packe ich meine Taschen neu, der Himmel ist sauber gewaschen, am nächsten Morgen breche ich endlich Richtung Frankreich auf. Ab Imperia, zwischen Genua und Menton, gleich hinter der Grenze, verläuft der Radweg auf einer aufgelösten Eisenbahntrasse, inklusive Tunnels, rostigen Brücken, Blick auf das wunderbare Mittelmeer in türkis. Ich weiss, dass ich einen besonders schönen Abschnitt abradel, wenn ich praktisch nicht vom Fleck komme, weil ich ständig Fotos machen muss: Verwinkelte Häuser, Torbögen und alle Schattierungen von bröckelndem Putz zwischen Terrakotta-Gelb und Ziegelrot, der Weg der sich zwischen alten Bäumen entlang schlängelt, ein Hund der auf dem Balkon gähnt, ein blühender Kaktus, das Meer und nochmal das Meer, weil es durch einen Spalt zwischen Häusern durchblitzt oder einem Torbogen. Es ist einfach wahnsinnig schön. Das Gebirge schiebt sich aus Norden ins Meer, wo der Bergrücken im Meer verschwindet, ragt die Landzunge weit ins Meer raus, die Täler zwischen den Bergrücken bilden Buchten, in denen sich die Häuser zu Dörfern und kleinen Städten zusammendrängen. Ventimiglia ist Postkarten-pittoresk und als ich um die nächste Felsnase biege liegt da schon Menton, die Dächer leuchten in der Nachmittagssonne. Hinter zwei Tunneln liegt die Grenze nach Frankreich.

 

Menton ist an einen Bergrücken gebaut, der sich aus dem Meer erhebt, die Gassen sind winzig und steil und Tunnels und Treppchen verbinden die wenigen Straßen, die sich am Steilhang zwischen den Häuserreihen verlaufen. Eine davon ist die Via Augusta, die älteste der Straßen, die Gallien mit dem Mittelmeer verband – hin zu einem Pass, der schneefrei in den Norden führt. So erklärt es mir Stephen Lennane, …der hat sich da vor ein paar Jahren ein Haus gekauft und beherrbergt mich für die kommende Nacht. Auch das Haus historisch: Aus dem Fenster des Zimmers, in dem ich die schlafen darf, hat Napoleon an seine Gefolgschaft gesprochen. Stephan ist Chirurg und als er noch ein bisschen jünger war, da ist er auch viel geradelt – bis so vor 10 Jahren: Da war er gute 70! Außerdem ist er Segler, und Brite – hat ein Haus in Südengland und ein kleines Bötchen unten im Hafenbecken. Er kümmert sich um seine Frau, Suzan, die seit einem Schlaganfall Zuwendung braucht. Er macht das mit Liebe und Geduld, und lädt sich die Welt zu sich ein, weil er selbst nicht mehr rauskommt. Wieder eine Warmshower Begegnung. Stephen kocht für uns - früher hat das seine Frau gemacht: Die hat Kochbücher geschrieben, über die cypriotische Küche, zB. Heute gibt’s Nudeln mit Pesto. Später zeigt er mir sein Segelboot im Hafen – es ist da schon spät in der Nacht, die letzten Kaffees verrammeln ihre Türen und die ganze Riviera-Perle geht langsam ins Bett – da balanciert der Mann noch glücklich auf der schaukelnden Schaluppe rum und erzählt mir, dass er sich noch nicht getraut hat das seinen Kindern zu erzählen – die schimpfen, weil er nicht mehr segeln soll.

 

assorted Riviera - und ein alter Herr, der mir für eine Nacht die Tür zu seinem historischen öffnet. Wir quatschen bis Mitternacht über alles und haben viel was uns beide interessiert. David Gilmour hat auf der Geburtstagsfeier seiner Frau gespielt, das ist lange her, sie waren noch jung und auch David Gilmour war noch jung. Der Mann hat viel gesehen und kann erzählen - was für ein schöner Abend war das!

Von der Riviera zurück in die Berge

 

Bis Nizza fahr ich glücklich die Riviera ab, Berge, Buchten, oben malerische Dörfer, unten türkise Buchten, blauer Himmel, es ist warm und riecht nach Kiefernnadeln. Hinter Nizza endet der Riviera-Zauber in zersiedelten Vorstadtelend. Fitness-Studios, Reifenhändler, 4-spurige Schnellstraßen, Einrichtungs-Discounter, gesichtslose Wohnblocks für die nicht ganz so Reichen. Scheiss-Antibes, scheiss-Cannes – was für eine Hybris, nur weil ab und zu Frau Jolie, sowie die Herren Clooney und Caprio zu Gast sind. Gruselig. Dann geht’s ins Inland, hügelig erst, dann bergig. Ich folge einem der vielen europäischen Radfernwege – dem EV 8, der sich von Athen bis Cadiz erstreckt. Die Idee natürlich lobenswert, die Umsetzung eher sketchy. Ich muss schon aufpassen wie eine Schlange, um die Schilder nicht zu übersehen. Selbstvergessenes Dahinradeln auf scheinbar angelegten Radwegen wird rigide abgestraft: Tout de suite findet man sich wieder in der Walachei. Trotz erhöhter Aufmerksamkeit finde ich mich dann dennoch vor einem Schranken, dahinter führt ein Schlammpfad unsittlich steil einen Hang hoch. Ich versuchs und scheitere. Tatsächlich ist da schon das Schild: EV8 – da geht’s hoch. Ich such mir eine Alternative, sieht auf der 2D Ladkarte auch ganz vernünftig aus, zumindest sind es Straßen und keine Schafpfade. 2 Stunden später geht’s immer noch in Serpentinen die Berge hoch und weiter unter mir erahne ich den Weg, den zu fahren ich mich geweigert habe. Aber es ist landschaftlich so toll, so anders als die Riviera, die Städtchen gemauert und unverputzt. Unbesiedelt, kein Verkehr. Verfallene Kirchengemäuer. Eine Schlucht, ein wilder Fluss, für deutsche Verhältnisse ist das hier wirklich verlassen. Wäre es später am Tag hätte ich hier einen Platz zum Campen gesucht – aber es ist noch zu früh und was macht man einen langen Nachmittag und Abend allein im Wald? Abends finde ich überraschend einen Camping-Platz der offiziell noch geschlossen hat, aber ich darf trotzdem rein. bei mir sind die Akkus leer und es gibt eine heiße Dusche und später koche ich mir die Nudeln, die an dem Abend in Pavia nochmal davon gekommen sind. Der Betreiber des Platzes stellt mir eine halbe Flasche Wein hin und als es dunkel wird liege ich im Zelt und freu mich. Später wache ich auf, weil der Sturm am Zelt rupft. In den Bäumen rauscht es und auf der Campingplatz Baustelle weht es die Plastik Stühle und Tische durch die Gegend. Das ist der angekündigte Sturm, der mir für die nächsten 3 Tage ins Gesicht blasen wird. Und weil ich auf dem Weg nach Draguignan feststelle, dass bei aller Leidenschaft für die malerische Provence der Wind feindselig auffrischt, je länger ich unterwegs bin, nehme ich tags drauf einen Zug nach Marseille, warte auf das Abflauen des Sturms in den Bergen und gönne mir ein bisschen die Kulturhauptstadt des Jahres 2013. Gegründet 600 BC von Griechen, die den mediterranen Raum mit Apoikien erschlossen, also Keimzellen, die sich dann zu einer Polis auswachsen konnten und sollten. Marseille war dank sehr geschütztem Hafen ausgesprochen erfolgreich und schwang sich auf zu einer frühen Metropole, die selbst neue Siedlungen im Mittelmeerraum als Handelspartner aufbaute. Dann das wechselhafte Geschick von reichen und lebenswerten Städten: Die Gallier wollten die Stadt erobern, da kamen die Römer zu Hilfe, blieben gleich da und übernahmen den Laden. Dann wurde es christlich, die Ostgoten kamen, die Westgoten, die Franken, die Sarazenen. Im 14. Jhd hat von Marseille aus die Pest auf Europa übergegriffen. Yersinia pestis: Es wäre so leicht gewesen. Ratten und Mäuse bekämpfen und die Flöhe mit einem großangelegten Angriff der Kammerjäger. Zitronenöl, Campher, Eukalyptus, Rosmarin, Textilien waschen bei über 60°C, ausmisten, Schubladen ausräuchern, Winkel fegen – Vorhänge und langflorige Teppiche und Flokatis wird man in den Stuben der Armen nicht gehabt haben. Was hätte man leisten können, wenn man damals wusste, was heute jedes Kind weiß? Stattdessen sind die Priester mit seltsamen Schnabelmasken durch die Gassen gezogen und haben Weihrauch und Segen gespendet. Die Hälfte der Bevölkerung ist damals gestorben in Marseille – die schlimmste Katastrophe in der langen Geschichte der Stadt.

 

Bis 600 Jahre später die Deutschen kamen und Himmler den Befehl gab die Innenstadt auszubomben. Anders als in Paris hat in Marseille kein deutscher Stadthalter die Befehle aus der Wolfsschanze verweigert und die „Festung“ – Sprachgebrauch der Nazis für die gehaltenen Städte im besetzten Frankreich - an die Resistance übergeben. Marseille wurde niedergebombt. Fast 2000 Gebäude haben die Deutschen allein in der Innenstadt zerstört, es ist eben das Viertel um den alten Hafen, den die griechischen Siedler über 2500 Jahre vorher entdeckt und ausgebaut haben.

 

Heute ist das ein bemerkenswertes Nebeneinander von Baustilen, alten restaurierten Kirchen, modernster Architektur. Selbst die Betonklötze, die sie in die Baulücken eingepasst haben wirken harmonisch eingepasst in das Stadtbild. Um den alten Hafen sind Museen entstanden, verbunden mit Parks und Gärten, die alte Festungsanlagen und moderne Glasbauten einschließen. Dachgärten werden über schmale Fußgängerbrücken verbunden, die über die Wasserarme der verzweigten Hafenanlage führen. Eintritt wird nur verlangt, wenn man die Ausstellungen besuchen will. Schlendern auf Frühlingshaften Anlagen ist umsonst, ebenso wie Herumliegen auf warmen Mauern mit Blick auf das glitzernde Meer und den großen Fährhafen von dem aus die Schiffe nach Korsika, Barcelona und Tanger ablegen.

 

 

Morgen früh verlasse ich Marseille um 7.45 in Richtung Manosque. Dann habe ich auch dieses Hostel in Marseille abgespeichert und übernehme die guten Ideen für das Hostel in München. Hier kann dann der Lips die Bar übernehmen und seinen Studententraum einer Kneipe verwirklichen. „Notaufnahme“ sollte der Laden heißen, das Essen wird in Nierenschalen gereicht. Bedienungen tragen Pfleger-Tracht. Ausbaufähiges Konzept.

 

Marseille: Sagenhafte Stadt.

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Kommentare: 2
  • #1

    Lips (Sonntag, 10 April 2022 13:41)

    ...den Schnaps aus Reagenzgläsern hast Du vergessen. Und Doktor Lechi (den Arzt, den Frauen fürchten) steht hinter der Bar!

  • #2

    Claudia V (Sonntag, 10 April 2022 14:50)

    Hallo Stefan,
    Lips hat mir den Link (mal wieder) geschickt. Ich wollte es dir schon nach der China-Reise sagen: du schreibst wirklich sehr kurzweilig und interessant. Respekt! Man möchte sofort aufbrechen (allerdings mit der Bahn oder so).
    Bin schon am Überlegen wie wir verkühlte Radfahrer hier bei uns unterbringen ....
    Pass auf dich auf und gute Weiterfahrt!
    PS: Lips & Stefan, wehe ihr bringt dann in der Bar einen Spruch wie "Darf ich mal abhören?" :-)