Warten auf die großen persischen Momente

Das Rad ist geparkt. Radltaschen lagern im Keller des hervorragenden Heritage Hostel. In Teheran. Ich aber bin in Isfahan und meine Reise macht gerade Pause von den Fahrradwegen.

 

In Kürze zusammengefasst bin ich von der Grenze mit einem Minibus nach Tabriz und von dort mit dem Zug nach Teheran. Teheran musste zeitig erreicht werden, um die Visen für Turkmenistan und China zu beantragen – ein bürokratischer Hürdenlauf, zeitaufwendig und nervtötend. Im Idealfall sollte zumindest die Beantragung abgeschlossen sein, wenn die Eltern ankommen. Jawohl, die beiden Eltern erfüllen sich einen langgehegten Wunsch und besichtigen den Iran, mich freuts, weil mich besichtigen sie bei der Gelegenheit gleich mit. Mama und Papa habe ich schon lange nicht mehr gesehen und wir reisen zusammen von Teheran nach Isfahan, Yasd und vielleicht noch nach Shiraz, was ja auch sagenhaft schön sein soll.

 

Ich bin anfangs unterwegs mit Jasper und Naomi, zwei Belgier, die mit einem Tandem unterwegs sind – Jasper ist Fahrradmechaniker und ich bin bereits 5 Minuten nachdem wir uns kennengelernt haben mit Werkzeug und Ersatzteilen mit Jasper an meinem Surly um Bremsen und Schaltung neu einzustellen. 

 

Tabriz und Tehran sind nicht die Städte, die einen sofort mit den großen persischen Momenten erfüllen. Aber Tabriz hat den größten überdachte Bazaar der Welt, über 8000 Läden verkaufen hier das, was in orientalischen Bazaars halt so verkauft wird. Gewürze und Nüsse, Linsen, Mandeln, Reis, … getrocknete Rosen und Boretsch, Lebensmittel vom Kuhfuss bis zum Sesamöl, Waschmaschine, Geschirr und Elektronik, Schrott und Schmuck und natürlich Teppiche. Modern gerade sind die Motivteppiche aus maschineller Produktion, Ölgemälde mit Szenen der französischen Renaissance in fotorealistisch geknüpfter Reproduktion. Schauerliche Entgleisungen des Geschmacks. In 100ten von Lädchen sieht man die Scheußlichkeiten. Unter den gemauerten Bogengängen stapeln sich Waren, drängeln sich Händler, hupen Motorräder, stauen sich Schubkarren mit halben Kühen. In all dem Gedränge finden sich trotzdem immer wieder ruhige Ecken, kleine Innenhöfe und Moscheen. Die überdachten Ladengässchen treffen in Hallen zusammen und auf mehreren Stockwerken zweigen neue Wege ab, führen in weitere Innenhöfe und Hallen, manche geschäftig, manche verlassen. Sich hier zu verlaufen ist so unvermeidbar wie erstrebenswert. Schade, dass Ramadan ist – ich fühl mich komisch hier Essen zu kaufen und ich kann mir vorstellen, dass es noch viel lebendiger und turbulenter ist, wenn die Teeläden und Restaurants geöffnet haben. So kaut man verlegen in einem stillen Winkel auf dem traurigen Brotlappen rum, der hier als die Spitze des Bäckereihandwerks firmiert. Unter einem Stapel  von Teppichen hat sich eine Katzenfamilie eingerichtet und die Jungen sind neugierig und ängstlich. In der Stille dieser verlassenen Halle ist es kühl und Licht fällt in Strahlen von oben durch die eingestaubten Fenster. So verbringe ich eine unaufgeregte Stunde mit Katzenfotographie und der Betrachtung von Staub, der durch die Lichtkegel schwebt. Kleine Flusen, die aufleuchten, wenn sie vom Lichtstrahl getroffen werden, im kleinesten Luftzug herumwirbeln und unsichtbar weiterschweben, sobald sie wieder im Schatten sind – so funktioniert zB auch die sehr geniale Fluoreszenzkorrelationspektroskopie und ich denke an meine Arbeit zu Hause. Durchaus nicht einmal ungern.

 

Ein Iraner greift uns auf und lädt uns in seinem Laden ab -  Kilims und Teppiche, sein Geschäft besteht aus zwei kleinen Räumen, ehemals war hier ein kleines Hotel für Reisende, in die Mauer eingelassen sieht man noch den Ofen, mit dem eines der beiden Zimmer beheizt werden konnte, hinten im kalten Raum schliefen die Frauen, vorne residierten die Herren um im Feuerschein die Tiefen ihrer Gedanken auszuloten. Heute ist das Geschäftchen sorgsam hergerichtet, geschmackvoll, jede Ecke ausgelegt mit Teppichen unterschiedlicher Nomadenstämme – wir erfahren viel über Muster, verschiedene Garne und die unterschiedlichen Nomadenstämme, die immer weniger werden und immer weniger unterschiedliche Kilims weben. Wäre ich nicht mit dem Rad unterwegs hätte ich mich sogar überzeugen lassen – außerdem ist das hier so günstig und ich glaube dem Herrn gerne, dass er viel weiß und in der Gegend die Hersteller kennt. Ich werde auf der Reise noch so viele Händler kennenlernen, soviel Expertise und Einführungen in die Motivsprache, so viele einmalige Gelegenheiten … aber der Mann war sympathisch und vielleicht ein bisschen typisch für eine Bazaar-Karriere im Iran: Studiert, aber keinen vernünftigen Job, eingestiegen ins Geschäft des Onkels, expandiert, eigener Laden, inzwischen kleiner Lehrauftrag an der Uni – so nebenbei, außerdem Touristenführer. Tabriz: Klar kann man mehr erzählen, aber das muss jetzt reichen.

 

 

Um unsere Visen zu beantragen müssen wir schnell nach Teheran und wollen den Nachtzug nehmen, einen 4er Kabine ist so spottbillig, 4 Euro zahlen wir, 4 Betten für 3 Leute und einen Haufen Gepäck – wie wir aber die Räder transportieren, versuchen wir in den zwei Tagen Tabriz zu erforschen – es gibt zwar den Nachtzug, aber nur manchmal gibt es einen Cargo-Wagon und uns wird geraten am Bahnhof die Tickets zu kaufen und bei der Gelegenheiten die Modalitäten der Fahrradmitnahme zu klären. Die Tickets sind schnell gekauft, aber das mit den Fahrrädern…: No Problem, but you have to arrange with Cargo Bureau, which is down town and very very far away. Die gleiche Auskunftsdame sagt im selben Satz noch, dass das Büro nur 250 Meter, raus aus dem Bahnhof und dann rechts sei (also was jetzt?) und wir im Idealfall, alles morgen und zwar um 9 Uhr in der Früh organisieren. Und mit dem Infobüro sprechen sollen. Das machen wir. Da erfahren wir, dass der Transport umsonst ist, wir aber nicht zum Cargo Büro müssen. Aber der Transport kostet 800.000 Rial – das sind 5 Euro (also was jetzt: zahlen oder nicht?) Wo wir die zahlen sollen? Das wüßte sie auch nicht, aber für morgen reicht es, wenn wir 30 Minuten vor Abfahrt da wären. „Now, what about our bikes?“ fragen wir. „What bikes?“ fragt sie zurück…. Hier kommen wir also nicht weiter. Aber ein Uniformierter holt mich ab. Ich sitze in einem gekühlten Raum, 3 Herren sitzen rauchend vor ihren Schreibtischen. Schweigend, dann geht der erste, dann der zweite, dann verlässt auch der letzte wortlos den Raum. Irgendwann geh ich auch. Zurück am Schalter, wo wir die Tickets gekauft haben, treffen wir auf eine englisch sprechende Mitarbeiterin der iranischen islamischen Bahnbetriebe. Sie begleitet uns zur Info – da erfahren wir, dass wir morgen um 9 Uhr, 11 Uhr, 1 Uhr, bzw 3 und 5 Uhr bitte hier sein sollen. Wir entscheiden uns für 9 Uhr

 

Am nächsten morgen werden wir um 9 vorstellig – der Bahnhof ist noch im Tiefschlaf, die meisten Schalter geschlossen, Ketten verhängen die Büros, Rolläden aus rostigen Metallstreben sind vor die wenigen Läden gezogen.  … von einer verschlafenen Mitarbeiterin wird uns mitgeteilt, dass wir erst um 8 Uhr abends aufschlagen müssen, Bike no problem, 30 min before train leaves und hier könnten wir offensichtlich auch nichts machen. Jasper und ich beschließen trotzdem 90 Minuten einzuplanen – wir werden jede Minute brauchen.

 

Um 7pm sind wir am Bahnhof, unsere Räder stoßen auf ratlose Mienen, wohin mit unseren Gefährten??? Schulterzucken. Ich werde in dem Büro vorstellig, in dem ich Vortags alleine gelassen wurde, die Herren sitzen wieder rauchend vor ihren Schreibtischen. Sprechen die englisch? Ich versuchs und der mit den meisten Goldstickereien an der Uniform erhebt sich, alles no problem, „come with me“, …. Plötzlich folgen uns 3 Mitarbeiter und führen uns zum Bahnsteig, an dem unser Zug bereits wartet und wir unsere Taschen im Abteil verstauen können, weiter hinten ein rostiger Container auf Rädern, das Cargoabteil, Kette, Panzer-Vorhängeschloss, aber aus einem Mitarbeiter wird ein Schlüsselbund hervorgezaubert – er öffnet eine Schiebetür und wir dürfen beginnen unsere Räder in den Wagon zu heben. In Tabris spricht man Azerbaijiani – dem Türkischen in etwa so verwandt wie das Holländische dem Deutschen und so verstehe ich wie von „on dollar“ gesprochen wird – on -türkisch 10. 10 Dollar für den Transport, das ist fast doppelt so teuer wie das ganze Abteil, das wir für uns gebucht haben, inklusive Tee und Kuchen. Und weil wir uns nicht verarschen lassen wollen, machen wir Rabatz. Rückblickend ein Fehler. Der Bahnmensch beginnt unsere Räder wieder zu entladen, wir starten die belgisch/deutsche Bahnhofsrevolution und ich renne in jedes der Büros, die ich bislang kennengelernt habe. Nun wird auch der Cargo-Typ nervös, wir wollten eine Rechnung und das böse Wort „Bestechung“ fällt. Inklusive Beweisphoto - …  ich klingle den Bahnhofsvorsteher aus seinem Büroschlaf und beharre auf irgendwelchen Mitarbeitern, mit denen ich im Vorfeld gesprochen habe, … mit einem Haufen Uniformierter im Schlepptau rausche ich auf den Bahnsteig – aber da ist bereits mein goldbehangener Oberoffizier aus der Schreibstube vor Ort, der Cargo-Wagon-Mensch ist sehr hilfsbereit, plötzlich, Handshake und Versöhnungs-Selfie inklusive. Die Räder sind sorgsam im Zug verstaut. Wir beziehen unser Abteil, versuchen nun gedanklich zu durchdringen, was nun an welcher Stelle falsch gelaufen ist – wir bestaunen einen kleinen gelben Zettelfetzen auf dem unsere Gepäcknummer steht, könnte aber auch die Einkaufsliste sein, oder ein Schmierzettel der neben dem Telefon liegt. Die Zugfahrt ist grandios und ich schaffe es nicht lang wach zu bleiben – stattdessen wache ich immer wieder auf und der Zug ächzt sich die Berge hinauf, kracht in Kurven, es rattert und knirscht. Nächtliche Haltestellen in gelbem Licht, Männer mit riesigen Gepäckstücken, Frauen in das Elend eines schwarzen Tschadors gewickelt, dann verschwindet der Zug wieder in die schwärzeste Nacht und kein Dorf macht auch nur einen Funken Licht bis zur nächsten Haltestelle. Nachts durch den Iran, schon geil, irgendwie, denke ich mir. Ist es ja auch. So super – und dann nicke ich wieder ein.

 

Morgens um 9 erreichen wir Teheran – unsere Räder lagern im verschlossenen Abteil und natürlich ist niemand da, um uns über das weitere Verfahren ins Bild zu setzen. Später wird uns mitgeteilt, dass wir die Räder in 5 Stunden abholen könnten – vielleicht, mal sehen. Dazu muss ich eine Behörde finden, bei der ich 800.000 Rial einzahlen soll. Mit der Quittung muss ich den Kerl finden, der unsere Räder in Tabriz, …. Und so weiter. Dafür brüten wir mit unseren Taschen im schmucklosen Wartesaal des Teheraner Bahnhofs, machen abwechselnd sorgenvolle Ausflüge um zu sehen, ob der Wagon noch da ist, bis ich irgendwann die Behörde ausfindig gemacht habe und die Rechnung gezahlt habe. Aus dem Nichts erscheint mein neuer Freund und ist nun Willens uns das Rad auszusperren. Jasper begleitet den Herrn über den Wagonschlüssel, hört sich geradebrechte Verwünschungen an über seinen Idiotenkumpel (mich!!!). Denn nur 1 (!!!) Dollar, und er hätte uns das Rad einfach so nach Tehran im Zug transportiert. Aber ich (der Idiotenkumpel) hätte ja so ein Theater gemacht (das ist allerdings richtig!). 1 Dollar?

 

Und rückblickend hat er natürlich Recht: Auch für 10 Dollar wären wir so viel entspannter gefahren – inklusive der offiziellen Gebühr hätte das für jeden nicht mehr als ein paar Cent bedeutet. Für ein paar Cent also eine unnötige Bahnhofs-Revolution, Geschrei, Gerenne und die Rache des Systems durch stundenlangen Wartehallenarrest. Ziemlich viel Bohei und ziemlich wenig gespart. Sollte ich in meiner Herrlichkeit auch noch „on“ für türkisch „10“ mit „one“ für englisch „1“ missverstanden haben, verstehe ich das kopfschüttelnde Unverständnis des Cargotypen noch ein bisschen besser. Aufrecht mit dem Kopf durch die Wand.

 

 

Jetzt sind wir in Tehran, haben ins sehr sagenhafte Heritage Hostel eingecheckt, ein zentraler Knotenpunkt der Radreise-Community, die hier langsam zusammenfindet. Seit Iran sind es viele Grüppchen und ein paar wenige versprengte Alleinreisende auf dem Fahrrad, die hier den Anlauf Richtung Turkmenistan und China-Visum starten. Vorher hatten wir vielleicht voneinander gehört: Das Schweizer Pärchen, die beiden Deutschen, die Belgier, … jetzt treffen wir uns endlich mal, und abends sitzen wir zusammen und gleichen unsere Strategien ab für die Antragstellung: Pseudobuchungen für Flüge und Hotels inklusive erlogene Reiserouten für China, sorgsam ausgeklügelte Einreisedaten für Turkmenistan. Ich brauche noch Passfotos und lande tags darauf bei einem übellaunigen Hochzeits-Photografen, der mich erst frisiert, mein T-Shirt zusammensteckt und ewig mit Licht und Hintergrund tüftelt, derweilst eine Packung Zigaretten wegatmet um zarte Schleier wie Weichzeichner über meine krampfigen Züge zu legen, während in der stehenden Zimmerhitze der Schweiß hinter meinem Gürtel versickert, wie ekelhaft das alles ist, aus meinen Schuhen kochts.  Dann klickt es 3 mal. Ich sehe das Foto und erschrecke: so schlimm sehe ich aus? Wie gruselig, man sieht die Schweißbäche an den Schläfen, müde Tränensäcke, die Haut grau, ich sehe aus wie ein polnischer Kriegsreporter.

 

Die chinesische Botschaft hat dezidierte Vorstellungen von den exakten Abmessungen des Pass-Photos, sowie der Größe des abgelichteten Gesichts auf dem Bild, so dass sich klare Angaben des Abstands von Scheitel zur Bildoberkante ergeben (5mm) bzw Kinn zur Bildunterkante (11-14mm). Bring das mal einem persischen Fotografen bei – und während ich mich noch an einer Skizze versuche, ein stilisiertes Gesicht in einen virtuellen Rahmen skizziere und die Abmessung in Schönschrift an die entsprechenden Seiten anschreibe, hat der Fotograf bereits begonnen mein Gesicht in Hochzeitsfasson zu bringen: Hinfort mit der Geheimratsecke, die Züge gestraft, Nasolabialfalte – braucht man nicht als Bräutigam, ratzfatz retuschiert, die Frisur nachgeschnitten, ein paar Haarbüschel verpflanzt, füllig im Scheitel, Puder auf die spiegelnde Nase, die Wangen trockengelegt, …. Nein nein nein!! NEIN!! rufe ich – das ist ein PASS-FOTO (aber das sagte ich ihm von Anfang an!). Allein: das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ein schmucker Knabe, der da am Bildschirm entsteht. Ein bisschen sieht er aus wie ich! Es streiten sich Sorge um die chinesischen Visaphotoansprüche mit der eigenen Eitelkeit, … aber es gewinnt die Angst und ich zwinge den Fotografen Schritt für Schritt zu dem retrograden Verhäßlichungsprozess, an dessen Ende ein Passfoto in Idealabmessungen steht. 2h für 6 Passbilder, die wir gemeinsam aus dem Fotopapier ausschneiden. Der Spaß kostet umgerechnet 80 Cents.

 

Meine virtuelle Reiseroute führt mich von Tashkent nach Peking und ich bereise die unbekannten Highlights des chinesischen Nordwestens – bis an das Ende der chinesischen Mauer, zurück über einen Südbogen, die Wahl der besichtigten Orte weisen den Kenner des chinesischen Peripherie jenseits der „beaten tracks“ aus. Mal sehen ob ich so die chinesische Botschaft beeindrucken kann. Für jede Nacht ein Hotel, gebucht von Gülnaz, die sich um kostenlos stornierbare Unterkünfte gekümmert hat. Danke Gülnaz – Ein Flug von Tashkent nach China und zurück nach München. Danke Fauzia für die Fake Buchung. Ein Formular, dass sich sperrig bearbeiten lässt, 4 seitige Auskünfte zu Familie und Route, Beruf und Adresse, …. Farbkopie des Passes, alles unterschrieben. Und Turkmenistan ist auch nicht besser – anders, aber nicht besser.

 

Die Abgabe an den jeweiligen Botschaften begehen wir gemeinsam – so treffen sich morgendlich alle Radler an der turkmenischen und chinesischen Botschaft und tauschen ihre Erlebnisse aus den Kriegsschauplätzen ihrer Reisen aus. Und es wird eine Whatsapp Newsgroup: „Crossing Iran“ gegründet. Niko und Katherina haben als einzige an dem Tag bereits die Visen für China und Turkmenistan abgeholt und sind am Tag darauf Richtung Mashad im Osten Irans aufgebrochen – von dort geht’s über die Grenze nach Turkmenistan. Vor 5 Tagen ist Katharina irgendwo in den Bergen vom Rad gefallen, Knie kaputt – Jasper hilft das Rad aus den Bergen nach Teheran zurückzufahren, für die beiden ist hier Schluss. Wie bitter, inzwischen sollten sie auf dem Weg nach Deutschland sein.  

 

Iran: spricht man von den Reiseabsichten in dieses Land, gehen sorgenvoll die Augenbrauen Richtung Haaransatz und die stereotype Antwort befasst sich mit dem Thema Reisesicherheit. (Richtig ist: Das Land hat ein massives Image Problem: Ein gestörter Haufen Mullahs kujoniert mit der Unterstützung von Strenggläubigen, Kriegsveteranen und dem Militär gefühlte 95% der Bevölkerung, die auf die religiöse Diktatur keine, aber auch wirklich gar keine Lust haben)

 

Von Reisenden hört man das Gegenteil und die Berichte geben Grund zu allerhöchsten Erwartungen: Kulturell und landschaftlich ein unbeschreibliches Erlebnis, vielseitig, faszinierend und andersartig. Und das Essen…. Vor allem aber die Menschen mit ihrer endlosen Gastfreundschaft sind das zentrale Thema der Reiseberichte. Es ist schwer all Erwartungen zu unterdrücken, bei so viel Vorschusslorbeer, aber die ersten Tage halten sich zurück mit dem ganz großen persischen Faszinationsgefühl. Viel von dem Erlebten ist skurril aber auch anstrengend, die Stunden am Bazaar sind bestimmt authentisch, aber vielleicht liegt es am Ramadan, dass die Stimmung ein wenig gedämpft bleibt. Nicht bei mir, sondern auf dem Bazaar. Essen dito. Die Menschen begegnen mir neutral, im Bus müssen Jasper und ich uns von Naomi wegsetzen. Geschlechtertrennung. Die Männer starren uns stumpf an, während Naomi von den schwarz abgedunkelten Frauen um sie herum getröstet wird – sie verstehen vermutlich ganz gut, wie Scheiße sich diese Apartheid anfühlt.  In Tabriz verliere ich die Fassung als mir ein Idiot entweder aus Unkenntnis oder Antisemitismus ein Liebeslied auf AH zu singen beginnt. Alle in Tabriz liebten die Deutschen, in Tabriz sei man wie in Deutschland und alle lieben Hitler. Was für ein Saftarsch. Als Vegetarier ist auch nach Einbruch der Dunkelheit die Versorgungslage kompliziert. Ich freu mich, als ich 4 gegrillte Tomaten auf Reis bekommen kann. Das ist für die ersten Tage der kulinarische Höhepunkt. Die viel gerühmte Gastfreundschaft beschränkt sich auf die ewig gleichen Fragen.

 

  • Where from? From? From? You?
  • City City???
  • Tabriz? Nice?
  • Iran? Hospitality good?

 

Die großen persischen Momente lassen also noch auf sich warten – vielleicht aber auch viel verlangt von einem Land, wenn man in der Hauptstadt Visen zu organisieren hat.

 

Am Abend nehme ich ein Taxi zum Flughafen, um meine Eltern abzuholen. Erstmals habe ich einen Fahrer der nicht alle zu überholen versucht, sondern von allen überholt wird. Jetzt wird die Zeit doch eng aber ich komme rechtzeitig und warte in der Ankunftshalle. Dann kommen die beiden, ich sehe wie der Papa herumtigert, weil der Koffer erst als letzter auf dem Band erscheint, Mama hat ein Kopftuch und eine sittsame Oberbekleidung. Ich bin ganz gerührt, als ich die beiden sehe, ich find das tapfer und mutig und bin stolz auf meine reiselustigen Eltern und freu mich sehr. Die kommenden 10 Tage werden sie mit mir durch den Iran reisen.

 

 

 

Erste Eindrücke der Landschaft auf dem Weg nach Tabriz - das Gebiet gehört an sich zu Azerbajian, die Exklave ist auf der anderen Seite des Aras, dem Grenzfluss. In Tabriz ist der Bazaar die vielleicht einzige Attraktion, aber man kann schon stundenlang in dem Labyrinth verlorengehen ...

Kommentar schreiben

Kommentare: 7
  • #1

    Gülnaz (Montag, 10 Juni 2019 20:02)

    1000 mal habe ich mir die Frage gestellt: in den Iran fahren oder doch nicht? Aber dann haben wir uns ja für das Treffen in Georgien entschieden und sind dafür von Tiflis und Kazbegi üppig belohnt worden.

    Ich weiß, dass es vielen leicht fällt, sich mit der Verhüllung zu arrangieren (inkl. meiner Tante, die aus einer kemalistischen und modernen Famile stammt). Ich muss jedoch zugeben: ich kann mich nicht mit dem Gedanken arrangieren, mich dem Diktat zu beugen. Meine Mutter mit ihrer Kopftuchphobie sitzt mir zu sehr im Genick.
    Wer weiß, vielleicht ergibt es sich ja doch mal irgendwann - entweder wenn ich lockerer werde oder der Iran.
    ;-*
    G

  • #2

    Thomas (Dienstag, 11 Juni 2019 13:29)

    Hallo Stef,
    hochinteressant was du vom Iran berichtest.
    OK, das mit den 10$ Schmiergeld nicht zahlen war ein Fehler, wie du schreibst, denn die kafkaeske Aufführung wär das locker wert gewesen. :)
    Meine Erfahrungen mit dem Iran waren ganz anders. Es lag vielleicht an der Reisezeit (April in Zentralpersien war’s ziemlich frisch und die wahnsinnig hohen Berge bis weit herunter verschneit -
    stell dir vor die letzten Tage vor Abflug konnten wir in Teheran noch Skifahren! Super Schnee!),
    aber es lag sicherlich auch daran, dass nicht Ramadan war.
    In Albanien, wo ich jetzt während des Ramadan war, hat man überhaupt nix davon bemerkt.
    Vielleicht Nachwirkungen des (Steinzeit-)Kommunismus!?
    Ich schick dir ein paar Bilder auf deine Mailadresse.

    Das mit dem Kopftuchzwang wird ja durchaus von einigen doch sehr locker gesehen.
    Aber meine Erfahrungen sind jetzt auch schon wieder zwei Jahre her und vielleicht hat ein amerikanischer Präsident doch vieles noch ärger gemacht ...... aber die selbsternannten Politiker im Iran sind auch nicht besser (prozentual gesehen die höchste Anzahl von Hinrichtungen weltweit?)

    Isfahan ist toll. Wenn du an einem Samstag dort bist, geh am Morgen in die Synagoge! Ja, das ist der Hammer.
    Manchmal versteht man die Welt halt doch nicht.
    Alles Gute
    Thomas

  • #3

    Buki (Mittwoch, 12 Juni 2019 15:22)

    Hi Stef,

    vielleicht waere ich die Sache mit dem Fahrradtransport gleich am Anfang etwas anders angegangen; z.B. haette ich gefragt ob man die Fahrraeder auch im Zug in unmittelbarer Naehe unterstellen kann, weil wertvoll. Und beim Anschein einer Möglichkeit haette ich dem Cargotypen gleich etwas Trinkgeld in die Hand gedrückt. Eigentlich bedeuted Bakschisch (Türkisch: bahşiş) ja eigentlich nichts anderes als Trinkgeld; wird aber immer gleich mit dem unfreiwillig abgegebenen Schmiergeld gleichgestellt. Im türkischen gibt es ein altes Sprichwort das besagt, dass liebe Worte sogar eine Schlange aus ihrem Versteck hervorlocken. Also immer schön nett sein und Leute überzeugen Dir gegenüber auch nett zu sein (wenn es nicht anders geht, dann auch mit ein bisschen Trinkgeld :)). Bei mir funktioniert es in den meissten Faellen und hoffentlich nicht nur weil ich eine Frau bin.

    Liebe Grüsse und viel Spass zusammen mit Deinen Eltern...

  • #4

    Gerd K. und Regina (Donnerstag, 13 Juni 2019 00:12)

    Liebe drei H's,
    wir stehen heute Abend mit unserem Camper, der vor 12 Jahren schon iranische Luft geatmet hat,
    auf einem Parkplatz am Meer am Rande der Carmague und lesen Stefans neuesten persischen Reisereport und soeben auch über die Ankunft der Eltern. Modern times. Wir wünschen Euch eine schöne gemeinsame Zeit und bitten Stef um weitere so witzige Reisereport-Erlebnisse incl. dieser vielen schönen Fotos.
    Beides hat bei uns und der Familie chronische biketobeijing-Lesesucht ausgelöst...
    Herzliche Grüße, bon voyage in Iran und so weiter...
    G&R

  • #5

    Thomas (Donnerstag, 13 Juni 2019 09:35)

    Lieber Stef,


    "Herrschaft ist vergänglich

    Die iranische Kultur ist reich an Dichtern und Denkern, welche die Menschen im Alltag und im Ausnahmezustand zu Rate ziehen. Vor dem Mausoleum des Mystikers Hafis in Schiras lassen sie sich durch Vögel einen Sinnspruch auswählen, der ihnen eine Antwort auf drängende Fragen liefern soll. Alternativ kann jeder in dessen Diwan selbst den Finger über die Seiten fahren lassen und den gefundenen Vers auf seine Situation anwenden.

    Das hilft natürlich nicht über konkret erfahrenes Unrecht, über ausbleibenden Lohn oder gesundheitliche Belastungen hinweg. Es schärft aber den Sinn für Höheres und für die Vergänglichkeit von Herrschaft. So steht am Ende dieser nächtlichen Reflexionen und angesichts des aufziehenden Kriegsgeheuls nur eine Gewissheit: Der Iran wird die Islamische Republik überleben. "

    https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-06/teheran-iran-atomabkommen-usa-sanktionen-islamische-republik/komplettansicht

  • #6

    Helmut Hannus (Freitag, 14 Juni 2019 18:39)

    Lieber Stefan, wieder zurück daheim: Danke für die freundliche Begrüßung am Flughafen, eine Freude nach so langer Zeit. Danke für alle Reisehilfen, Bus, Zug, Taxi. Danke für Rettung aus verlorenen Wegen im Dickicht der kleinen Wege und der großen Boulevards dank funktionierendem Google Maps und SIM -Card change. Und danke fürs mutige Zurückweisen von 20 $ Taxikosten.
    Klar ist es langweilig jedesmal zu erklären dass man Alman ist und aus Germany kommt.
    Aber am letzten Nachmittag haben wir im Park gegenüber dem Nationalmuseum einen alten Herrn getroffen, der in der Abendschule perfektes Deutsch gelernt hat und mit dem man sich sicher noch lange hätte unterhalten können.
    What a country!
    Gute Reise durch die Wüste, gute Ausreise aus dem Iran (bei uns völlig problemlos und durch alle Bürokratien der Nachfolgestaaten.
    In Geduld warten wir auf die Fortsetzung.
    Alles Gute Lao Ha und Lao He

  • #7

    Golnaz :) (Dienstag, 28 Januar 2020 18:58)

    Liebe Stef,
    Ich habe versucht, Ihre Reisegeschichte auf Deutsch zu lesen, aber ich konnte nicht! mein deutsch ist leider immer noch nicht so gut !! :)
    I’ve managed to visit your website just now. i’m so thrilled that you could finally visit my hometown which unfortunately has been suffering day by day from the Mullahs. it’s very interesting to see iran from a Deutscher specially now that I’m living here for almost a year and have the chance to get to know German’s culture better. I totally understand Gülnaz‘s viewpoint and I do respect her free soul. I wished our country was free and we could live our lives the way we really deserve as human beings. Hope everything is good with you two guys .
    Ich würde mich sehr freuen, München bald zu besuchen und einige schöne Stunden mit euch zu verbringen.
    Viele Grüße
    Golnaz von Bremen